Was macht Kinder besonders? - Kita kinderzimmer Hamburg

Was macht Kinder besonders?

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Dass jedes Kind irgendwie „anders” ist, sagt sich leicht, wenn „anders sein” nur bedeutet, dass die eigene Tochter oder der Sohn Segelohren hat oder sich vor Hunden fürchtet. Es gibt aber auch ein Anderssein, das sich erst mal gar nicht gut anfühlt. Das Eltern verunsichert und das Kind vielleicht auch. Eine Entwicklungsverzögerung,die sich nicht von selbst verwächst. Ein Talent, das auch Sorgen mit sich bringt. Ein Verdacht, auf den irgendwann eine Diagnose folgt und darauf ein ganzes Leben mit dem Anderssein. Wir haben mit Müttern von besonderen Kindern gesprochen, wie es sich anfühlt zu erkennen, dass etwas anders ist als „normal”. Und wo sie Hilfe gefunden haben, um den anderen Weg mit ihren Kindern zu gehen. Einfach ist das meistens nicht. Aber dafür besonders und intensiv.

Lisa hat einen Sohn mit frühkindlichem Autismus:

Text: Sabine Cole | Foto: Denys Kuvaiev

Eigentlich wusste ich direkt nach der Geburt, dass mit Jannis etwas nicht stimmt. Er schaute uns nie direkt an, starrte immer irgendwo anders hin. Ich las, dass Kinde die Augen ihrer Eltern fixieren, aber Jannis guckte weg. Er lächelte auch wenig und viel später als andere Babys. Er fremdelte nicht, es war ihm irgendwie egal, bei wem er auf dem Arm war. Ich fragte immer wieder unsere Kinderärztin, teilte ihr meine Sorgen mit, aber sie meinte, es sei alles in Ordnung, ich solle geduldig sein. Mit zehn Monaten wechselte ich den Arzt. Der neue Arzt verschrieb uns sofort Frühförderung und Krankengymnastik und riet uns, einen Kinderneurologen in einer Klinik aufzusuchen. Dieser Spezialist hatte aber über ein halbes Jahr Wartezeit. Sodass Jannis mittlerweile eineinhalb Jahre alt war, als wir ihn bei dem Neurologen vorstellten. Der Neurologe fand heraus, dass er nichts finden konnte, was er erst mal als gutes Zeichen wertete. „Kein Befund ist gut. Alles, was wir hätten finden können, wäre schlimm gewesen.“ Das hat mich nicht wirklich beruhigt.

Mit achtzehn Monaten lernte Jannis laufen. Aber nicht schnell, wie andere Kinder, sondern über einen langen Zeitraum. Irgendwie dauert bei ihm alles klebrig lange. Als Jannis zwei Jahre und zwei Monate alt war, bekam ich ein zweites Kind. Jetzt wusste ich, was an Jannis alles „anders“ war. Disziplinen hinweg. Ein Psychologe, ein Pädagoge, ein Arzt, dort arbeiten sie zusammen, nicht auf ihren Fachausschnitt fixiert. Eine richtige Diagnose bekamen wir auch dort nicht, allerdings attestierte man uns, dass wir Jannis all das an Hilfe angedeihen ließen, was möglich war. Mit fünf Jahren landeten wir aus anderen Gründen wieder in dem Kinderhospital, an dem der erste Neurologe praktizierte. Ein Psychiater stellte dann die Diagnose: „frühkindlicher Autismus“ oder „Kanner-Autismus“ oder auch „Autismus-Spektrum-Störung“, denn Autismus kann unendlich viele Formen haben.

Jannis ist heute vierzehn Jahre alt. Er kann sehr gut sprechen und lesen, nur Schreiben fällt ihm sehr schwer, weil seine Motorik eingeschränkt ist. Jannis muss immer alles ganz genau wissen, damit er Sicherheit hat. Sein Tagesprogramm ist ein eingefahrener Ablauf, der keine Änderungen duldet. Er fragt mich am Tag tausendmal, was als Nächstes passiert. Und ich muss ihm sehr präzise antworten, sonst geht er an die Decke. So was wie „Wir fahren gleich nach Hause“ geht gar nicht. „Gleich“ ist das schlimmste Wort. „In zwei Minuten fahren wir mit dem Auto nach Hause, ohne anzuhalten.“ Das ist ein präzise Antwort. Spontaneität ist abgeschafft. Wenn irgendwas Unvorhergesehenes passiert, dann flippt Jannis aus. Und weil man ihm nicht ansieht, was er hat, sind die Leute oft sehr ungeduldig mit ihm. Er brüllt rum, alle sind genervt. Da habe ich schon die tollsten Sachen erlebt.

„Jannis muss immer alles ganz genau wissen.“

Ich warte darauf, dass Inklusion Wirklichkeit wird. Dass normale Kinder mit behinderten Kindern spielen und lernen. Warum gibt es keine gemischten Sport- oder Malgruppen? Jannis würde gern Sport machen, aber es gibt nirgends eine Turngruppe für ihn. Verschiedene Kinder profitieren voneinander. Respekt, Verständnis, sich selbstverständlich umeinander kümmern. Das ist für mich Integration, das wünsche ich meinem Sohn und mir.

Chris hat eine Tochter mit attestierter Hochbegabung:

Als Hedi gerade vier war, hat ihr Kinderarzt uns nach einer der U-Untersuchungen geraten, einen Test machen zu lassen, ob sie eventuell hochbegabt sei. Sie habe bei der Untersuchung viele Buchstaben und Wörter erkannt, was so in ihrem Alter ungewöhnlich sei. Er gab uns eine Adresse, wohin wir uns wenden sollten, und riet uns dringend, uns rechtzeitig damit auseinanderzusetzen, damit wir sie im Zweifel fördern könnten. Das Erste, was ich dachte, war: Na toll, jetzt haben wir einen Nerd.

„Das Lesen hat Hedi sich selbst beigebracht.“

In einer Praxisgemeinschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie haben wir Hedi dann testen lassen. Und unser Kinderarzt hatte recht. Die Eltern sind beim Test nicht dabei. Man bekommt hinterher einen Schein mit einer Zahl drauf, und dann muss man selbst entscheiden, was man mit der Information anfängt.

Wir haben das den Erziehern im Kindergarten erzählt, und die waren nicht verwundert. Hedi war ja unser erstes Kind, wir hatten also keinen Vergleich und fanden Hedi darum völlig normal. Aber die Erzieher meinten, sie seien längst hellhörig geworden, weil Hedi für ihr Alter einen ungewöhnlich großen Wortschatz habe, schon Sätze in Perfekt und Plusquamperfekt bilde und so früh die Uhr lesen konnte wie kein Kind zuvor in diesem Kindergarten.

Sie zeichnete auch schon räumlich, was ebenfalls sprichwörtlich „ins Bild“ passte. Wir waren nicht begeistert, als Hedi mit vier schreiben lernen wollte. Lesen hatte sie sich selbst beigebracht. Ich sagte, dass sei vor der Schule nicht nötig, aber sie wollte unbedingt. Ich fragte unseren Kinderarzt, was ich machen solle, und der sagte: Wenn sie den Wunsch äußert, dann unterstützen Sie sie. Fördern Sie Ihr Kind. Sonst wird die Schule sie frustrieren, und sie wird eine Verweigerungshaltung entwickeln. Also fragte ich eine Grundschullehrerin, wie man schreiben lernt. Am Ende brauchte Hedi mich kaum, sie eroberte sich die Schrift einfach selbst mithilfe eines Schulbuchs.

Hedi ging dann mit vier in die Vorschule und sollte mit fünf eingeschult werden. Das ist üblich, damit der Abstand nicht zu groß wird. Uns wurde eine Spezialschule empfohlen. Aber wir haben uns dagegen entschieden, weil der Schulweg so weit gewesen wäre. In Hamburg gibt es sogenannte Schmetterlingsschulen, da gehen die Kinder in normale Klassen und können, wenn es ihnen zu langweilig wird, den Unterricht verlassen. Sie bekommen dann eigene Aufgaben. Auf so eine Grundschule haben wir Hedi geschickt, und das war auch gut so. Hochbegabte Kinder sind oft sehr sensibel und empathisch. Hedi macht sich viele Sorgen, tut alles mit Bedacht, ist sehr beobachtend und schaut sich die Dinge vom Rand aus an. Sie ist sozial völlig integriert, aber man merkt schon, dass sie mit den Interessen ihrer Klassenkameraden, die ja älter sind als sie, nicht viel anfangen kann. Shoppen gehen, auf dem Handy spielen, Lip-sync-Videos aufnehmen, das interessiert sie alles nicht. Sie liest lieber oder macht Experimente.

Wegen ihres riesigen Wissensdurstes ist es uns sehr wichtig, dass sie Sport macht und einen Ausgleich hat, damit der Kopf nicht permanent rattert. Wir sagen anderen Eltern nicht gern, dass Hedi hochbegabt ist. Man wird dann so angeschaut wie: „Jaja, das sagt heutzutage jeder von seinen Kindern.“ Als ob man sich was darauf einbilden könnte. Alles, was anders oder besonders ist, macht die Menschen skeptisch, manche reagieren ablehnend. Und man muss wirklich sehr vorsichtig sein mit Hedi. Sie ist eben ziemlich schlau. Und es ist schwer, ihr etwas vorzumachen.

Gina hat einen Sohn mit ADHS:

Den ersten Kommentar, der quasi die Richtung gewiesen hat, haben wir von unserem Kinderarzt während einer regulären U-Untersuchung gehört. Da war Leon sechs oder sieben Monate alt. Der Arzt wollte, dass Leon irgendwie seinem Finger mit den Blicken folgt, aber der hat ständig woanders hingeguckt. „Das wird mal ein Hyperaktiver“, sagte er dann. Darüber hab ich mich ziemlich aufgeregt. Ich fand Leon völlig okay, er ist mein drittes Kind, und ich habe ihn als sehr aufgeweckt, lustig und fröhlich wahrgenommen. Er hatte schon skurrile Einfälle, aber mir kam das nicht problematisch vor. Einmal hat er zum Beispiel eine Kerze in den Toaster gesteckt, um zu gucken, ob man sie so anzünden kann. Ich fand den Gedankengang, der hinter dem Experiment steckte, eigentlich ganz pfiffig, auch wenn es dem Toaster nicht gutgetan hat.

Erst als Leon mit drei in den Kindergarten kam, wurde es schwierig. Er hielt sich nicht an die Regeln und ließ sich leicht ablenken. Zum Beispiel blieb er beim Stuhlkreis morgens nicht sitzen, wenn er irgendwas am Fenster sah, was ihn mehr interessierte. Er brauchte auch immer einen Rückzugsort, wenn es ihm zu viel wurde. Weil man nie genau wusste, wann es ihm zu viel wird, mussten die Erzieher ihn oft suchen. Aber er hat sich nicht versteckt, wie es ihm dann unterstellt wurde, sondern er hat sich einfach entzogen, um abzuschalten. Uns wurde empfohlen, ihn testen zu lassen. Von einem Amtsarzt erhielt er schließlich die „Bescheinigung“: ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.

Aber damit war es nicht getan. Jedes Mal, wenn man eine Therapie brauchte oder eine neue Gruppe besuchen wollte oder die Schule anstand oder was auch immer, musste man wieder einen Test machen. Und noch einen. Und immer wird einem etwas anderes geraten, wie man damit umgehen soll. Jedes Gespräch beginnt mit den Worten: „Welches Problem haben Sie denn mit Ihrem Sohn?“ Und ich antworte: „Keins, die anderen haben Probleme mit ihm.“ Leon ist einfach anders.

Seine Lieblingstiere sind Fische. Seine ersten Wörter waren „Lachs“ und „Hering“. Mit vier Jahren hätte er eine Vorlesung über die Tiefseepopulation halten können. Aber wo seine Hausschuhe stehen, wusste er nie. Er ist immer ein bisschen desorientiert. Oder eben „reizoffen“, wie die Profis gern sagen. Es ist heute noch so, dass er sich nur merken kann, was ihn interessiert. Ehrlich gesagt ist das bei mir nicht anders. Wenn ich etwas spannend finde, kann ich das. Wenn ich meine Steuererklärung machen soll, verzweifle ich. Wenn das eine „Störung“ ist, dann hab ich eben auch eine. Leon ist nur nicht so systemkompatibel wie die meisten anderen. Einige Spezialisten sagen auch, es gebe kein ADHS, Kinder seien eben sehr verschieden.

Damit Leon sich besser konzentrieren kann und seine Motorik gefördert wird, ist er, seit er drei ist, in der Ergotherapie. Also seit über zehn Jahren. Langsam findet er sich besser zurecht. Übrigens ohne Medikamente, darauf haben wir immer verzichtet, weil es auch ohne ging. Man muss als Eltern ganz schön aufpassen, dass Kinder wie er nicht aussortiert werden vom Bildungssystem. Wir mussten mehrfach die Schule wechseln.

„Leon ist immer ein bisschen desorientiert.“

Erst war er ein Inklusionskind, dann hat er aber nicht schreiben gelernt, weil man ihm das nicht zumuten wollte. Heute weiß er, dass er mal Abitur machen will, und bringt die ersten guten Noten nach Hause. Seine Schrift lesen kann immer noch keiner. Aber er schon. Und es gibt ja Computer. Und er besucht jetzt einen Kalligrafiekurs. Das finde ich eine verrückte Idee, die passt zu ihm.

Suze hat einen Sohn mit Downsyndrom:

Wenn mich irgendjemand fragt, wann ich davon erfahren habe, dass mein Sohn das Downsyndrom hat, dann sage ich: Na, beim Nackenfaltenscreening. Und dann habe ich mich für das Kind entschieden, weil ich finde, dass diese Kinder auch ein Recht auf Leben haben. Und seht her, wie fantastisch mein Kind ist! Dann bewundern mich alle und finden mich eine sehr starke Frau mit einem tollen Sohn.

Die Wahrheit ist aber eine andere. Ich habe bei Robins Geburt erfahren, was los ist. Und es hat mich total umgehauen. Ich habe eine Woche nur geweint und dachte, mein Leben sei vorbei. Erzähle ich das so, dann schauen mich alle mitleidig an und fragen mich, was ich gemacht hätte, wenn ich „rechtzeitig“ gewusst hätte, dass ich ein Kind mit Downsyndrom bekomme. Wenn ich dann sage, dass ich nicht anders entschieden hätte, dann sehe ich die zweifelnden Blicke. Das finde ich ganz furchtbar. Denn heute kann ich tatsächlich sagen: Mein Sohn ist ein Geschenk! Er hat mein Leben verändert, und zwar ins Positive. Das ist keine kitschige Schönfärberei. Downkinder sind ganz wunderbare Kinder, und wer das je erfahren hat, kann überhaupt nicht verstehen, warum man diese Kinder nicht haben will, warum sich viele so sehr davor fürchten.

Robin hat zwei ältere Schwestern. Er ist jetzt drei, seine Zwillingsschwestern sind sechs Jahre alt. Als er auf die Welt kam, haben sie ihn begeistert empfangen. Sie können auch nicht verstehen, was an ihm anders sein soll. Er ist einfach mega.

In unserer Familie ist Robin der Entspannteste, der Lustigste, der Coolste. Zweifel kennt er nicht. In Frankreich habe ich den Begriff „enfant de soleil“ gehört. Wir würden vielleicht sagen: Er ist ein echter Strahlemann. Bis auf den Gendefekt ist er ein organisch völlig gesunder Junge. Natürlich ist er anders als die anderen. Er entwickelt sich langsamer, er spricht nicht gut und wird auch niemals Bundeskanzler oder Unternehmensberater werden oder den Pulitzerpreis gewinnen. Aber, obwohl, Letzteres vielleicht doch? Für mich war das erste Jahr mit ihm eine Prüfung. Ich musste mich prüfen, überprüfen, was ich eigentlich will. Meine Karriere, die mir bisher immer so kostbar war, ist die wirklich so wichtig?

Brauche ich noch mehr Medaillen auf der Uniform, wem will ich was beweisen und wozu? Robins Existenz hat alles infrage gestellt. Leistungsorientiertes Denken, Effizienz, all das ist mit einem Kind wie ihm unmöglich. Also habe ich das Tempo aus unserem Alltag rausgenommen. Und siehe da, das tut mir genauso gut wie ihm!

„Wenn Robin etwas nicht will, dann ist Feierabend.“

Als ich Robin mit eineinhalb Jahren in die Krippe der Einrichtung gegeben habe, in der auch seine Schwestern waren, fand ich den Gedanken toll, dass er in eine normale Kita geht. Für unsere Familie war es praktisch, nur einen Anlaufpunkt zu haben. Und den Kindern ist noch nicht mal aufgefallen, dass da einer anders ist. Entgegen allen Vorhersagen fing Robin auch mit einem Jahr und acht Monaten an zu laufen und fügte sich gut ein. Die Erzieher waren alle sehr lieb mit ihm und haben sich toll engagiert. Trotzdem ist es auf Dauer schwer, dass alle Kinder, auch die viel jüngeren, ihn links und rechts überholen. Deswegen habe ich mich nach einem Jahr doch entschieden, ihn in eine Inklusionskita zu geben. Wo er anders gefördert werden kann und auch nicht immer der Nachzügler ist.

Wenn Robin etwas nicht will, dann ist Feierabend. Nein heißt Nein, das kann man bei Robin lernen. Und das Leben leicht zu nehmen, Spaß zu haben und es etwas langsamer angehen zu lassen. Ich habe gelernt, dass es nichts bringt, sich auf die Defizite zu konzentrieren. Lieber gucke ich, was er kann. Was seine Schwestern können, was ich kann. Was wir alle können. Und das ist richtig viel!