Und was machen wir heute – basteln oder musizieren? Wieso nicht beides? Ist doch schön, wenn man das eine tun kann, ohne das andere zu lassen.
Was tun bei Hörstörungen?
Text: Christian Heinrich
Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal im Leben etwas zu hören? Ein Geräusch, eine Stimme, eine Melodie? Natürlich kann sich kein Mensch daran erinnern. Bereits um die 26. Schwangerschaftswoche im Mutterleib ist das Ohr fertig ausgebildet, wenige Tage später reagiert das ungeborene Baby bereits auf Schallreize mit Bewegungen. „Die Verdauungsgeräusche, der Herzschlag, der Blutfluss, das Baby im Bauch hört die Geräusche des Körpers der Mutter ständig. Man muss sich das so vorstellen, als würde man direkt neben mehreren Bahngleisen wohnen, wo ständiger Verkehr herrscht“, sagt Professor Dr. Rainer Schönweiler, der am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck die Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie leitet – das medizinische Fachgebiet, das sich mit Erkrankungen und Störungen der Sprache, Stimme, des Schluckens sowie mit kindlichen Hörstörungen auseinandersetzt.
Der sieben Monate alte Marlon war schon immer taub. Nun hat er in einer aufwendigen Operation ein Implantat bekommen, das es ihm endlich möglich machen soll zu hören. Ein Video, das zeigt, wie Marlon nach der Operation zum ersten Mal die Stimmen seiner Eltern hört, steht im Internet und wurde millionenfach abgerufen. Das Leuchten in den Augen, das überraschte Lachen: Der Kleine erlebt offensichtlich intensivste Glücksmomente.
Marlon hatte keinerlei Hörfähigkeit, daher hätte ein Hörgerät, das beispielsweise eine Schwerhörigkeit ausgleichen kann, bei ihm nichts bewirkt. Die Ärzte konnten ihm mit einem sogenannten Cochlea-Implantat helfen, es übernimmt unter anderem die Funktion der beschädigten Teile des Innenohrs. „Man kann heute den allermeisten Kindern mit beeinträchtigter oder nicht vorhandener Hörfähigkeit helfen“, sagt Pädaudiologe Schönweiler. Vor wenigen Jahrzehnten standen den Ärzten noch weit weniger Möglichkeiten zur Verfügung. Bei der Behandlung von angeborenen Hörstörungen hat die Medizin in jüngster Zeit enorme Fortschritte gemacht. Doch die eigentliche Revolution hat eine Stufe früher stattgefunden: bei der Diagnostik.
Die eigentliche Revolution hat eine Stufe früher stattgefunden.
Dass Marlon nicht hören konnte, war bereits am dritten Tag nach der Geburt klar. Es fiel beim sogenannten Neugeborenen-Hörscreening auf, das seit 2009 in Deutschland im Rahmen der U-Untersuchungen bei jedem Neugeborenen in der ersten Lebenswoche auf dem Terminkalender steht. Dabei handelt es sich um eine einfache Untersuchung, bei der über aufgeklebte Elektroden die Reaktion des Gehirns auf einen Ton gemessen wird. Das Screening dauert nur wenige Minuten und ist in keiner Weise belastend, das Baby muss dazu nicht einmal wach sein. Die Ergebnisse des Screenings werden anschließend in das gelbe Untersuchungsheft eingetragen. Im Grunde wird das Screening heute bei jedem Neugeborenen durchgeführt – dass es vergessen wird, ist fast ausgeschlossen. Entsprechend erfolgreich ist die Bilanz: „Dass heute bei einem Neugeborenen Hörstörungen nicht bemerkt werden, kommt praktisch nicht mehr vor“, sagt Schönweiler.
Immerhin zwei von tausend Neugeborenen, 0,2 Prozent, kommen mit Hörstörungen zur Welt. Die Ursachen sind vielschichtig: Erblich bedingte Störungen sind oftmals verantwortlich, aber auch die Einnahme bestimmter Medikamente (etwa Gentamicin, ein Antibiotikum) in der Schwangerschaft oder Sauerstoffmangel während der Geburt können die Hörfähigkeit beeinflussen. Mithilfe eines Hörgeräts kann eine Schwerhörigkeit ausgeglichen werden, bei komplexeren Störungen können chirurgische Eingriffe wie das Einsetzen eines Cochlea-Implantats helfen. Bei alldem gilt: Je früher eine möglichst optimale Hörfähigkeit erreicht wird, desto besser. Daher ist das Neugeborenen-Hörscreening auch so wertvoll, werden hier doch die Defizite frühestmöglich erkannt – Voraussetzung für eine normale Entwicklung. Denn wer nicht hört, der lernt nicht sprechen – zumindest nicht mit der eigenen Stimme. Zwar nimmt man Vibrationen von lauten Geräuschen wahr, so können Gehörlose etwa, wenn sie in der Nähe einer größeren Soundanlage stehen, im Rhythmus der Musik tanzen. Aber: „Damit wir im Laufe der ersten Monate und Jahre Silben und Wörter sprechen können, müssen wir sie immer wieder hören“, sagt Professor Schönweiler. Deshalb hat es gleich einen doppelt positiven Effekt, wenn ein Arzt einem Baby die Fähigkeit zu hören verschafft: Er gibt dem Baby auch alles an die Hand, um sprechen zu lernen.
Natürlich gelingt es nicht immer, das Hörvermögen zu hundert Prozent herzustellen. Heutige Hörgeräte sind zwar recht gut, und es gelingt oft selbst bei ausgeprägten Defiziten, ein komplettes Hörvermögen damit zu erreichen. Muss aber beispielsweise ein Cochlea-Implantat zum Einsatz kommen, bleibt das Hörvermögen ein Stück weit eingeschränkt – die Audio-Auflösung ist eben nicht so gut wie die des menschlichen Ohrs. Dementsprechend verzögert sich auch das Sprechenlernen. Doch in der Regel sind Kinder mit solchen Hörhilfsmitteln gut in Kitas ohne spezielle Förderung zu integrieren, Gehörlosenpädagogen schulen regelmäßig auch Erzieher von Kitas. Und, wichtig: Meist hören die Kinder eben doch – nur weniger detailliert als ihre gleichaltrigen, nicht beeinträchtigten Spielkameraden. Die Früherkennung von Gehörbehinderungen ist ein Segen, eine Errungenschaft der Medizin. Doch für eine Gruppe von Menschen wird damit auch ein Stück ihrer „Welt“ verändert: Rund 80.000 gehörlose Menschen leben heute in Deutschland. Gemeinsam mit ihren rund 120.000 Angehörigen sprechen sie eine eigene Sprache: die Gebärdensprache. Sie ist der Kern einer Art Parallelwelt, die man auch als Gehörlosenkultur bezeichnen kann. Diese Kultur schrumpft nun, denn es rücken kaum noch junge gehörlose Menschen nach.
Es gibt Störungen, die sich in den ersten Lebensjahren entwickeln.
Während Gehörlose in der Regel seit der Geburt taub sind, gibt es auch Hörstörungen, die sich in den ersten Lebensjahren entwickeln können. „Zusätzlich zu den 0,2Prozent der Kinder, die bereits bei der Geburt Hörstörungen haben, entwickeln in den ersten Lebensjahren noch einmal 0,2 Prozent eine Hörstörung“, sagt Schönweiler.
Hier kommen Sie als Eltern ins Spiel. Denn es stimmt zwar, dass die Medizin in Deutschland inzwischen ein recht sicheres Netz geschaffen hat, um Kindern mit Hörstörungen früh zu helfen. Aber so nah dran wie Sie ist niemand an Ihrem Kind. Deshalb empfiehlt Rainer Schönweiler den Eltern, mit ihrem Kind zum Arzt zu gehen, wenn sie das Gefühl haben, dass das Kind – akustisch! – nicht gut hört. Mit einem unkomplizierten Test kann dann das Hörvermögen geprüft werden. Zwar gibt es neuerdings auch ein weiteres Hörscreening im Rahmen der U 8, die normalerweise kurz vor dem vierten Geburtstag durchgeführt wird. Aber weil Hörstörungen auch in anderen Bereichen wie der Sprachentwicklung zu Verzögerungen führen, ist jeder Tag, den ein Kind eher behandelt wird, ein Gewinn. Deshalb sollten Sie nicht bis zum vierten Geburtstag warten, wenn Ihnen etwas am Hörvermögen Ihres Kindes auffällt.