Fantasie und Kreativität produzieren immer noch die schönsten Werke. Manche davon entstehen im kinderzimmer. Aber wie fördert man Fantasie? Und wofür kann man die später gebrauchen?
Macht malen klug?
Text: Fanny Jiménez | Fotos: Bernd Westphal (Still), Sonja Tobias (Porträt)
Die Kinderärztin sah angestrengt auf das Blatt Papier in ihren Händen und kniff kurz die Augen zusammen. Ein großer Eierkopf war darauf zu sehen, mit schief zueinanderstehenden Augen, einer Punktnase und einem Mund, der so breit grinste, dass er rechts und links aus dem Gesicht herausragte. Unten am Eierkopf klebte ein Bauch, der kaum zu erkennen war, und daran hingen zwei sehr lange Strichbeine ohne Füße. Das Gleiche gab es noch mal als Arme. „Na ja“, sagte sie. „Ist eben ein Junge, was?“
Der Junge sollte für die Vorsorgeuntersuchung kurz vor seinem vierten Geburtstag einen Menschen zeichnen, so gut er es eben konnte. Seine Mutter fand die Einschätzung der Ärztin ziemlich unsensibel, aber war erleichtert: Dieser Bleistift-Eierkopf ihres Kindes, das nie freiwillig einen Stift in die Hand nahm, genügte offenbar den Anforderungen.
In Deutschland hat dieser Test Tradition: Vorschulkinder sollen im Alter von vier und noch einmal mit fünf Jahren beim Arzt einen Menschen zeichnen. Das Bild gilt als Indikator für den kognitiven Entwicklungsstand: je differenzierter, desto besser. Doch nun zeigt eine Studie britischer Forscher, dass die kleinen Männchen nicht nur anzeigen, wie schlau ein Kind zu dem Zeitpunkt des Malens ist – sie könnten sogar Hinweise darauf geben, wie intelligent das Kind zehn Jahre später sein wird.
Hinweise auf die Erkenntniswelt.
Angefangen hat der Zeichentest im Jahr 1949. Der Heilpädagoge und Sonderschuldirektor Hermann Zeiler hatte die Strichmännchen-Prüfung entwickelt, um die Schulreife von Kindern zu testen. Das Strichmännchen, so seine Idee, verrät eine Menge darüber, wie Kinder die Welt um sich herum betrachten und verarbeiten: nach welchem Schema sie einen dreidimensionalen komplexen Körper wahrnehmen und wie gut sie diesen Körper dann zweidimensional wieder abbilden können.
Rosalind Arden vom Institute of Psychiatry am King’s College in London ist auf einen ungeborgenen Schatz gestoßen, wie sie sagt. Sie hat in dem riesigen Datensatz der „Twins Early Development Study“ – der größten Zwillingsstudie der Welt – 15.504 Strichmännchen gefunden, die von den untersuchten Kindern im Alter von vier Jahren gezeichnet worden waren.
Der Datensatz ist nicht nur deshalb einmalig, weil alle zwischen 1994 und 1996 geborenen Zwillinge in England und Wales eingeladen wurden, an den jährlichen Untersuchungen teilzunehmen, sondern auch, weil es von 5.000 Zwillingspaaren zusätzlich DNA-Proben gibt. Ein Paradies für Forscher, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Gene und Umwelteinflüsse miteinander wirken, um komplexe Eigenschaften hervorzubringen. Wie etwa Intelligenz.
Detailtreue bei den Gliedmaßen.
„Die Zeichnungen liegen da seit mittlerweile fast zwanzig Jahren“, sagt Arden. „Aber ich glaube, den anderen Wissenschaftlern schien es zu trivial, sich mit den Strichmännchen zu beschäftigen.“ Zusammen mit ihrem Team nahm sie sich die Bilder vor und analysierte, wie detailliert die Kinder ihr kleines Männchen gezeichnet hatten. Dabei ging es nicht um die künstlerische Begabung, sondern darum, wie viele Körperteile das Kind richtig erkannt und gemalt hatte.
Die Wissenschaftler zählten einfach: Für jedes vorhandene Körperteil gab es einen Punkt. Insgesamt, Arme und Beine zählten jeweils zusammen, ergab sich so eine maximale Punktzahl von zwölf. Dann überprüften die Forscher, ob sich ein Zusammenhang dieser Punktzahl zum Ergebnis eines Intelligenztests zeigen ließ, den die Kinder ebenfalls im Alter von vier Jahren absolviert hatten. Dort waren sie zum Beispiel gebeten worden, Puzzles zusammenzulegen, Sätze zu vervollständigen oder geometrische Muster logisch weiterzuführen.
Diesen Zusammenhang gab es: Je differenzierter die Kinderzeichnungen ausfielen, desto höher waren auch die Werte in den anderen Tests zur Intelligenz. Das überraschte Arden nicht. Bereits im Jahr 2011 hatte die neuseeländische Psychologin Emma Willcock bei der Analyse von vierzig schon veröffentlichten Studien zeigen können, dass ein Zusammenhang zwischen den Kinderzeichnungen und der Intelligenz im gleichen Alter bestand.
Wie viel Einfluss haben die Gene?
Überraschend aber war, dass dieser Zusammenhang auch galt, wenn die Forscher die IQ-Messungen zehn Jahre später heranzogen, also wenn die Kinder im Alter von vierzehn Jahren waren. Wer mit vier Jahren ein detailreiches Männchen gemalt hatte, der hatte mit vierzehn einen höheren Intelligenzquotienten als jene, deren Strichmännchen nur ein Kopffüßler war– ein Kopf mit Füßen und Armen, dem der Körper dazwischen fehlt. Einen Zusammenhang der Kinderzeichnung mit der Intelligenz eine ganze Dekade später, den hatte bisher niemand aufzeigen können.
Arden aber ging noch weiter: Sie verglich die Zeichnungen der eineiigen Zwillinge mit denen der zweieiigen Zwillinge. Während eineiige Zwillinge all ihre Gene teilen, haben zweieiige Zwillinge nur etwa fünfzig Prozent aller Gene gemeinsam, teilen aber wie auch die eineiigen die gemeinsame Lebensumgebung. Bei einem Vergleich der beiden Zwillingstypen können Wissenschaftler berechnen, wie viel Prozent der Unterschiede im Verhalten sich auf die Gene zurückführen lassen und wie viel auf den Einfluss durch die Umwelt.
Spiegel der kognitiven Fähigkeiten.
Das Ergebnis: Wie gut ein Kind im Alter von vier Jahren einen Menschen zeichnet, ist zu gut dreißig Prozent genetisch bedingt – das ist ein genauso großer Anteil wie bei der Intelligenz. Auch sie ist zu dreißig Prozent vererbt, das wissen Forscher bereits seit Langem. Die geteilte Umgebung, also etwa die Erziehung durch die Eltern und die Förderung im Kindergarten, war hingegen nur für 23 Prozent der Unterschiede in den Zeichnungen verantwortlich.
Möglicherweise also ist die Entwicklung beim Zeichnen der Intelligenz zu einem großen Anteil parallel geschaltet. Oder anders gesagt: Viele zentrale Merkmale der Intelligenz werden beim Zeichnen eines Menschen benötigt – daher ist das Bild ein guter Spiegel der kognitiven Fähigkeiten. Es scheine, sagt Arden, dass das Zeichnen einem Kind komplexe Problemlösungsfähigkeiten abverlange, die man sonst in aufwendigen Tests einzeln erfassen müsste.
Grundsätzlich durchlaufen alle Kinder beim Malen bestimmte Phasen, wie Martin Schuster, emeritierter Professor des Psychologischen Instituts der Universität Köln, in seinem Buch „Kinderzeichnungen“ schreibt: von der Schmierphase, bei der Kinder mit Brei und Matsch experimentieren, über die Kritzelphase, die mit etwa einem Jahr beginnt, wenn die Kinder einen Stift halten können, bis hin zu den Kopffüßlern ab drei Jahren und den ausgefeilteren Strichmännchen ab vier Jahren.
Strichmännchen sind kein IQ-Test.
Doch die Geschwindigkeit, mit der sie diese Phasen durchlaufen, hängt eng mit der kognitiven Entwicklung zusammen. Ein Strichmännchen ist also eine Art Fenster, durch das man einen Einblick in die Welt des Kindes bekommen kann. Das bestätigt Dr. Christian Fricke, ärztlicher Leiter des Werner Otto Instituts in Hamburg, das auf die Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsverzögerungen bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert ist.
Der Männchen-Zeichentest, so sagt er, hänge durchaus mit den kognitiven Fähigkeiten des Kindes zusammen – allerdings gelte das nur für normal intelligente Kinder. Hat ein Kind Einschränkungen, dann besteht der Zusammenhang oft nicht mehr – ein Befund, den auch Emma Willcock in ihrer Metastudie hervorhob. Die Studie sei interessant, sagt Fricke. Doch ein IQ-Test sei ein Strichmännchen deswegen noch lange nicht. Vierjährige seien schwer zu testen und die Ergebnisse daher oft ungenau. Es gehe also immer eher um einen ungefähren Entwicklungsstand.
Auch Rosalind Arden selbst ist vorsichtig. „Unsere Ergebnisse bedeuten nicht, dass sich Eltern Sorgen machen sollten, wenn ihr Kind nicht gut zeichnen kann“, sagt sie. Schließlich verlaufe die Entwicklung bei Kindern nicht immer linear, und manche seien zwar später dran, entwickelten sich dann aber schneller. Der Zusammenhang zwischen dem Strichmännchen und der späteren Intelligenz sei zwar vorhanden und statistisch bedeutsam, aber weit von einem schicksalsbestimmenden Momentum entfernt. Wenn ein Kind im Vorschulalter noch keine Hände und Füße male, sei das völlig in Ordnung.
Die Mutter, die sich so über die ruppige Kinderärztin geärgert hatte, ging übrigens ein Jahr später schon etwas ermutigter zu der Vorsorgeuntersuchung. Denn nun gab es sie tatsächlich, die Hände. Dicke Kugeln am Ende der Stricharme, mit so ungefähr zehn Fingern. Nicht schön, aber vorhanden.