FrĂŒhkindliche Bildung
Physik im Kindergarten?
Kindergarten ist mehr als Malen, Singen, Morgenkreis. Denn das Leben steckt voller verblĂŒffender PhĂ€nomene. Im kinderzimmer ergrĂŒnden wir sie.
Das Leben ist ein Experiment.
Text: Christian Heinrich | Foto: I Like Birds
Naturwissenschaftlicher Unterricht? Eine Stunde reservieren fĂŒr die Gesetze der Physik? Brauchen wir nicht! Der Alltag ist voll von Physik und Naturgesetzen. Man muss die Aufmerksamkeit des Kindes nur ein wenig darauf stoĂen â und das Lernen geschieht fast von selbst.
Wir decken den Tisch. Ein paar Teller hinstellen, Besteck dazu, Becher, bald ist das Routine. Aber dahinter steckt viel mehr. Es geht um Zahlen: Wie viele Leute sind wir? Es geht um Formen: Der Teller ist rund, der Tisch viereckig. Und es geht sogar um die GrundzĂŒge der Informatik: vom Tischdecken ĂŒber das Essen bis zur Ankunft der Nahrung im Magen â Teile davon folgen einem strengen Algorithmus, also vorher festgelegten Einzelschritten, manche Schritte können frĂŒher oder spĂ€ter durchgefĂŒhrt werden, andere nicht. Zum Beispiel kann man die Suppe nicht auf den Teller schöpfen, bevor der Teller auf dem Tisch steht. âEs kommt auf die Reihenfolge an. Das wiederum hat mit Programmieren zu tunâ, erklĂ€rt Bettina Schmidt vom Netzwerk âKleine Forscher Hamburgâ, das Teil der bundesweiten Bildungsinitiative âHaus der kleinen Forscherâ ist .Die gemeinnĂŒtzige Stiftung engagiert sich fĂŒr frĂŒhe Bildung in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT).

Bei den Algorithmen des Tischdeckens habe es natĂŒrlich keinen Sinn, vor dem Kind das Wort Algorithmus zu benutzen oder einzufĂŒhren, sagt Schmidt. âEs reicht in einem ersten Schritt schon, wenn man thematisiert, dass die Reihenfolge wichtig ist.â Und der DenkanstoĂ ist da. Das Kind versucht vielleicht â gegebenenfalls gemeinsam mit der Lernbegleitung â, bei anderen TĂ€tigkeiten Reihenfolgen, Strukturen, Algorithmen zu entdecken. Plötzlich wird das morgendliche Anziehen in seine Einzelschritte zerlegt. Ein Schritt in Richtung abstrakte DenkfĂ€higkeit â und auch Partizipation und Selbstwirksamkeit. Um Kindern ein GefĂŒhl fĂŒr Naturwissenschaften zu vermitteln, braucht man keinen Chemiebaukasten und keine Physik-Lern-App. âDer Alltag ist voll von Naturwissenschaft. Wenn man es schafft, einen Bezug zwischen dem Alltag der Kinder und dem jeweiligen naturwissenschaftlichen PhĂ€nomen herzustellen, ist eine Voraussetzung fĂŒr gutes Lernen schon einmal erfĂŒlltâ, sagt Bettina Schmidt.
So kann aus einer Wippe auf dem Spielplatz eine Physiklektion werden: warum das eine Kind nach oben geht, wenn das andere sich auf die andere Seite der Wippe setzt, und was geschieht, wenn ein Kind auf der Wippe nach vorn oder nach hinten rutscht. Vor dem Mittagstisch: Weshalb dampft das Wasser beim Kochen und wird weniger? Und warum wird der Herd heiĂ? Was ist eigentlich Energie, woher kommt sie? Und was brauchen die Pflanzen zum Wachsen, warum brauchen Autos Benzin? Wie ist das bei den Tieren â und wie bei uns Menschen?
Allerdings ist SensibilitĂ€t gefordert: Kinder erstmal experimentieren lassen, die Entdeckerlust nicht gleich mit ErklĂ€rungen und Nachfragen ersticken. âAndererseits braucht es manchmal Erzieher oder Eltern, um das Kind auf NaturphĂ€nomene aufmerksam zu machenâ, sagt Mirjam Steffensky, Professorin am Leibniz-Institut fĂŒr die PĂ€dagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der UniversitĂ€t in Kiel. Kinder seien zwar neugierig, doch Fragen wie âWarum ist der Himmel blau?â stellten die wenigsten von selbst. âWichtig sind anregende Interaktionen. Das heiĂt, dass man die Lerngelegenheiten als Erwachsener im GesprĂ€ch begleitet. Zum Beispiel durch Fragen, was als NĂ€chstes passiertâ, sagt Steffensky. Und Fragen kann man zusammen mit einem Kind beantworten: bei der Recherche im Internet oder indem man sich ein Buch aus der Bibliothek leiht.