Kann man Schmerzen wegsingen? - Kita kinderzimmer Hamburg

Kann man Schmerzen wegsingen?

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Text: Christian Heinrich

Aua, das hat wehgetan! Der dreijährige Jonas ist beim Rennen über eine Wurzel gestolpert und einmal der Länge nach hingefallen. Flecken auf dem TShirt, Erde im Mund, blutige Lippe, aber alle Zähne noch ganz. Nichts Tragisches. Jonas’ Mimik hinter den pausenlos kullernden Tränen und das mal leise, dann wieder ohrenbetäubend laute Schluchzen erzählen eine andere Geschichte: Ich habe Schmerzen, ich leide nicht nur ein bisschen, sondern unendlich, die Schmerzen sind soooo stark, mir geht es schlecht, sehr, sehr schlecht! Schnell eilt die Erzieherin herbei, nimmt Jonas in den Arm, pustet einmal, zweimal, dreimal, holt ein Pflaster mit kleinen Feuerwehrautos darauf.

Wichtig dabei ist einerseits, dass das Kind sich ernst genommen fühlt und getröstet wird. Manchmal sogar noch mehr helfen bei Schmerzen Ablenkung und Rituale. Manche Kinder glauben an die Kraft von Zauberpflastern, andere daran, dass der Erwachsene das Aua wegpusten kann oder dass das Kühlpack aus dem Eisfach in Form eines Pinguins hilft beim Heilen. Und dann gibt es da noch etwas anderes, was sich nicht nur bewährt hat, sondern den nach einem schmerzlichen Ereignis aufgewühlten Körper nachweislich gleich auf mehreren Ebenen zur Ruhe bringt. Denn wie wissenschaftliche Studien zeigen, helfen ganz besonders: Kinderlieder.

Eine entsprechende Studie haben beispielsweise die Psychologin Elena Longhi vom University College London und Kollegen durchgeführt. Sie setzten 37 Kinder, die bis zu vier Jahre alt waren und eine Erkrankung hatten, die Herz oder Atmung betraf, drei verschiedenen Situationen aus. Einmal hörten die Kinder ein Schlaflied, einmal eine Geschichte, und einmal wurden sie zehn Minuten lang in Ruhe gelassen. Davor und danach maßen die Forscher jeweils die körperlichen Reaktionen, darunter die Sauerstoffsättigung des Bluts, den Herzschlag und das Schmerzempfinden. „Musik scheint im Vergleich zu Lesen und keiner Interaktion das Wohlbefinden der jungen Patienten zu steigern“, schreiben sie in ihrer Studie, die im Fachmagazin „Psychology of Music“ erschienen ist.

Dabei scheint das Entscheidende offenbar der Beruhigungseffekt der Musik selbst zu sein und nicht der Inhalt der Liedtexte. Denn in der Studie von Elena Longhi wurden englische Kinderlieder gesungen wie „Hush, Little Baby“ und „Twinkle Twinkle Little Star“ – anders als etwa „Heile, heile Gänschen, es ist bald wieder gut“ haben sie aber nicht die Heilung einer Verletzung zum Thema. Also braucht es für den Effekt nicht einmal eine passende Geschichte. Es kommt auf die schönen Töne an, auf eine angenehme Melodie.

Musik als Hausapotheke.

Adäquat zu den englischen Liedern könnte man in Deutschland etwa Lieder wie „Bruder Jakob“, „Wer hat die Kokosnuss geklaut?“ oder „Der Mond ist aufgegangen“ singen. Hauptsache, die Lieder sind positiv und wiederholen sich. Aber welches Lied besonders gut geeignet ist oder nicht, das richtet sich nach Ihrem Kind: was zu Hause und in der Kita gelernt wurde, was Spaß macht zu singen. Ohne es zu ahnen, trägt wohl jedes Kind solch eine kleine Hausapotheke aus Liedern mit sich – die nur aktiviert werden muss, wenn es nötig ist. Das kann dann auch mal „O Tannenbaum“ im August sein.

Neben der beruhigenden und ablenkenden Wirkung der Lieder kommt wahrscheinlich auch der berühmte Placeboeffekt zum Tragen, der sich in aller Kürze so beschreiben lässt: Wenn jemand daran glaubt, dass ihm etwas hilft, dann hilft es auch. Dabei braucht es gerade bei den Kinderliedern gar nicht immer diesen ganz direkten Glauben, wie ihn Reime wie „Heile, heile Gänschen“ zu vermitteln suchen. Es reicht schon die indirekte Wirkung. Dieses Gefühl, das ein vertrautes Lied vermittelt: Mit dieser schönen Melodie sieht die Welt schon wieder viel besser aus, und alles wird wieder gut.

Bei Kindern dürfte ein Placebo in mancherlei Hinsicht besser wirken als bei Erwachsenen. Denn es kommt zu einem großen Teil auf die innere Haltung an, die im Körper erstaunliche Dinge auslösen kann. Bei Erwachsenen heilen dank Placeboeffekt Wunden schneller, die Magensäure-Konzentration verändert sich, und Schein- medikamente wirken besser als manche echten Medikamente. Doch Kinderlieder sollten deshalb nicht zum sanften Schmerzmittel degradiert werden, das lediglich eingesetzt wird, wenn Not am Kind ist. Sie können viel mehr. Sie fördern Gedächtnis, Sprachentwicklung und Lernvermögen. Sie können eine ganz besondere Gruppendynamik erzeugen. Und natürlich schulen sie das musikalische Verständnis.