Brauchen Jungs auch Puppen? - Kita kinderzimmer Hamburg

Brauchen Jungs auch Puppen?

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Interview: Roland Rödermund | Fotos: I like Birds (Still) & Benne Ochs (Porträt)

„Willst Du echt das rosa T-Shirt? Das ist doch für Mädchen!“ Ist Ihnen das auch schon mal herausgerutscht? Liegt nahe, dass man seinem Sohn am liebsten „jungsfarbige“ Klamotten kaufen möchte. Man meint es ja gar nicht böse. Doch selbst wenn der Spruch eher ein Reflex ist: Unsere Erwartungen an das, was „normal“ ist für Jungs oder Mädchen, haben mitunter eine schädlichere Wirkung, als wir vielleicht denken. Denn: Sie lassen unsere Kinder glauben, dass es ein richtiges und ein falsches Geschlechterverhalten gebe – und dass es irgendwie komisch sei, wenn man von der Norm abweicht.

Einer, der sich ziemlich gut mit Gender-Normen und -Zwängen auskennt, ist Nils Pickert, 38 Jahre alt und Vater von vier Kindern im Alter zwischen zwei und dreizehn. Der freie Autor und Journalist arbeitet seit fünf Jahren für Pinkstinks, einen Hamburger Verein, der sich nicht nur gegen Sexismus in der Werbung richtet: „Wir möchten uns generell für Vielfältigkeit einsetzen, damit in unserer Gesellschaft ein Gegenbild zum Sexismus und zur Verbreitung von Geschlechterstereotypen entworfen wird“, beschreibt Nils Pickert die Mission von Pinkstinks.

Was stinkt Dir eigentlich an Pink?
Also, wir finden Pink schön, und uns stinkt nicht die Farbe. Aber das, was man mit ihr verbindet, also die „Pinkifizierung“: dass man Mädchen darauf beschränkt, an Verschönerungsprozessen und für sie vermeintlich typischen Spielen teilzunehmen, und sie anhält, eher ruhig zu sein statt laut, eher schüchtern als selbstbewusst. Und Jungs bringt man bei, laut sein zu müssen, Blau toll zu finden, sich gleichzeitig eher von ihren Gefühlen zu entfernen und sich bloß nicht als Prinzessin zu verkleiden.

Es gibt Kinder, die von sich aus sehr stark an den typischen Spielsachen und Rollenangeboten interessiert sind: Mädchen, die mit Elsa und Prinzessin Lillifee spielen wollen, Jungs, die nur auf Trecker und Flugzeuge stehen.
Und das ist auch völlig okay! Wenn sich ein Junge von sich aus nur für Autos interessiert und ein Mädchen bloß für Puppen, dann sollen sie auch um Himmels willen nicht davon abgehalten werden. Wir wollen nur, dass sie sich dazu nicht gezwungen fühlen, um von ihrer Umwelt dafür Bestätigung zu erfahren, weil sie sich so verhalten, wie es sich für einen Jungen oder ein Mädchen „gehört“. Schön wäre es, wenn wir Kindern zeigen, dass es auch noch andere Möglichkeiten beim Spielen und Entwickeln ihrer kindlichen Persönlichkeit gibt als nur „für Jungs“ oder „für Mädchen“.

Sind wir nicht schon längst aufgeklärt und offen für Gender-Fragen?
Es gibt auf jeden Fall in der Gesellschaft ein Umdenken, und viele Eltern und Erziehende sind sensibilisiert dafür, dass man Kindern auch andere Rollen- oder Spielangebote machen kann. Wir beobachten gleichzeitig, dass ein Kind zu bekommen eine Art Sollbruchstelle ist: Selbst Paare, die akademisiert sind, die einen hohen Gleichberechtigungsanspruch haben und sich vor der Geburt ihres Kindes sehr viele Gedanken machen, wie offen und frei von Geschlechterklischees sie ihr Kind erziehen wollen, reagieren unsicher und so, wie sie es nach ihrer eigenen Prägung gewohnt sind. Und diese Unsicherheit überträgt sich auf ihre Kinder und setzt ihnen im schlimmsten Fall so sehr zu, dass sie sich „falsch“ fühlen.

Wie kann man Erziehenden diese Unsicherheit nehmen?
Wir versuchen die Eltern und Erziehenden so früh wie möglich ins Boot zu holen um ihnen klarzumachen, dass sich Kinder im Spielen eben ausprobieren und dass das völlig okay ist. Es ist wichtig, dass das Verhalten von Kindern in dem Alter nicht problematisiert wird. Unabhängig von ihrem Geschlecht bewegen sich Kinder sehr offen auf jegliches Spielzeug zu. Sie werden aber immer noch von den Erwachsenen dazu ermuntert oder gedrängt, sich das auszusuchen, was vermeintlich am besten zu ihrem Geschlecht passt.

Gibt es denn geschlechtsspezifische Spielsachen?
Für uns ist Spielzeug grundsätzlich geschlechtsneutral. Wir möchten Eltern vorsichtig an die Variationen heranführen und sie nicht verurteilen, wenn sie verunsichert sind, falls ihre Tochter am liebsten toben möchte und ihr Sohn lieber backen. Leider leben wir in einer Welt, in der auf Produkten wie Spielsachen, Kleidung, Magazinen und sogar Joghurt ganz dezidiert „für Jungen“ oder „für Mädchen“ steht. Das bedeutet im Umkehrschluss: Nur wenn ich das kaufe, verhalte ich mich konform und verstoße gegen keine Regel. Dann beweise ich mich in meinem Geschlecht.

Angenommen, mein erstes Kind ist ein Mädchen, das zweite ein Junge. Ich würde wohl ohne groß
drüber nachzudenken dem Jungen ein neues Rad kaufen, statt ihm das rosa Rad weiterzugeben, das ist einfach so drin…

Ja, weil sonst Deinem Sohn und Dir als Vater suggeriert wird, dass Ihr Euch nicht „jungstypisch“ verhaltet, wenn er damit fährt. Kindern und Eltern werden sehr starre Vorschriften gemacht – anstatt ihre Phantasie oder Offenheit und freie Persönlichkeitsentwicklung anzuregen. Wenn man als Erziehender offener da rangeht und sie lässt, erlebt man, dass Kinder selbst sehr spielerisch mit diesen Rollenerwartungen umgehen und von sich aus das aussuchen, was ihnen am besten gefällt, welche Farbe auch immer es hat. Wenn sich etwa mein dreijähriger Sohn Spangen ins Haar macht oder ein gelbes Kleid anzieht, kann ich ihm erklären, dass die anderen Kinder das komisch finden könnten, aber nicht über ihre Sprüche nachdenken. Dann kommt er sicher damit besser klar, als wenn ich sage: „Ja, die haben recht, Du siehst ja auch echt komisch aus.“

Die unterschwellige Angst ist ja: Mein Junge wird schwul, wenn er Kleider trägt. Und dann entsteht der Gedanke, dass man das ändern könnte, wenn man ihn daran hindert, Mädchensachen gut zu finden.
Am Schwulsein gibt es nichts auszusetzen. Außerdem wird niemand homosexuell, weil er oder sie sich auf eine bestimmte Art und Weise schminkt oder kleidet. Homosexualität ist eine Form der Identität und nichts, was Kindern anerzogen wird. Andernfalls würde ein heterosexuelles Elternpaar nur heterosexuelle Kinder und ein homosexuelles Elternpaar nur homosexuelle Kinder erziehen. Der Gedanke ist einigermaßen absurd. Trotzdem ist es wichtig, die Sorge von Eltern ernst zu nehmen, ihr Kind könnte es aufgrund seiner Andersartigkeit im Leben schwer haben. Es gilt, Eltern darin zu bestärken, die Identität ihrer Kinder nicht begradigen zu müssen, sondern wertschätzen und feiern zu können.

Soll man, platt gefragt, eigentlich Jungs zu Barbies ermuntern und sie Mädchen verbieten?
Nein! Wobei: Lieber sind uns natürlich Puppen, die uns Menschen ein bisschen ähnlicher sehen. Aber mit Puppen spielen ist eine super Sache – für beide Geschlechter. Darüber werden wichtige Beziehungsthemen verhandelt: Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, sich zu kümmern, zu streiten, setzen sich mit Familie und Liebe auseinander. Bei Jungs fördert es, dass sie später empathische, fürsorgliche Männer werden. Aber dahinter kann kein Zwang stehen. „Jeden Donnerstag: Puppenspielstunde für Jungen“, das wäre unklug.

Warum haben wir eigentlich so genaue Vorstellungen davon, was für die Geschlechter richtig ist?
Es gibt in der Psychologie den Ausdruck der Stereotypbedrohung. Das bedeutet, dass die Erwartungen und Anforderungen, die an Kinder und auch Erwachsene gestellt werden, dafür sorgen, dass wir uns unbewusst genauso verhalten, wie es von uns durch Stereotype erwartet wird. Ein Beispiel: Die letzte PISA-Studie etwa hat ergeben, dass Jungs und Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern genau gleich gut sind. Nun ist es aber so, dass Mädchen quasi behaupten müssen, schlechter zu sein, um sich überhaupt erst als Mädchen zu definieren, weil es „normal“ ist, dass Mädchen schlechter sind in Mathe und Physik. Und es wird noch krasser: Wenn man Kinder vor einem Test in diesen Fächern bittet, ihr Geschlecht auf dem Bogen anzugeben, schneiden die Mädchen schlechter ab, weil schon die Lehrer verinnerlicht haben, dass sie in diesen Fächern „von Natur aus“ schlechter sind. Macht man es nicht, sind beide gleich gut. Jungen haben übrigens das gleiche Problem in sprachlichen und sozialen Fächern.

Worin siehst Du die Gefahren einer solchen Vorverurteilung?
Aus diesem Dilemma kommen wir auch als Gesellschaft schwer raus – und müssen über Fachkräftemangel reden, darüber, dass in sozialen Berufen die Männer fehlen und in technischen die Frauen. Oder dass Männer in Familien keine Verantwortung übernehmen wollen, weil ihnen von klein auf vermittelt wurde, dass sie das nicht müssen oder können. Probleme, die wir uns selbst schaffen, wenn wir die Kinder nicht frei und mit ermutigender Unterstützung selbst ihre Rolle spielerisch erfahren lassen. Wir setzen ihnen künstliche Grenzen auf, die so überhaupt nicht existieren, weil wir es selbst nicht anders kennen.

Wie können Eltern sich zu Hause als Vorbilder verhalten?
Aus meiner Sicht macht es Sinn, das eigene Verhalten so oft wie möglich zu hinterfragen. Das fängt ja bei Kleinigkeiten an: dass man als Vater immer nur mit Söhnen raus zum Kicken geht, während Töchter daheim mit Mama häuslichen Tätigkeiten nachgehen. Es wäre toll, wenn Eltern ihre Kinder geschlechtsoffener erziehen, denn davon profitieren alle. Es bringt schon was, dass man es nicht genervt kommentiert, wenn der Sohn eine Puppe zum Spielen möchte, sondern es als das momentane Spielzeug seiner Wahl toleriert.