Wenn Kinder nicht hören können, leben sie in ihrer ganz eigenen Welt. Ein Glück, dass Hörstörungen heute immer besser behandelt werden, weil man sie früher denn je erkennt. Über eine große, leise Erfolgsgeschichte der modernen Medizin, die auch kulturelle Auswirkungen hat.
Warum ist Tanzen gut für das Gehirn?
Interview: Vivian Alterauge | Fotos: Sonja Tobias
Tanzen gehört für die Erwachsenen meist nur zu Geburtstagsfeiern und (seltenen) Clubnächten. Und wenn es um Kindertanz geht, fürchten Eltern schnell strenge Figuren wie das Plié im Ballett. Dabei sollten Kinder dringend tanzen – so oft wie möglich. Das tut nicht nur dem Körper gut, sondern auch dem Kopf.
Ich tanze, also bin ich (schlau).
Wie oft beneiden wir Kinder um ihr unbekümmertes Wesen. Wenn sie zum Beispiel Musik hören, dann schießt der Rhythmus, so scheint es, direkt in ihre Arme und Beine. Sie beginnen zu wackeln, zu klatschen, die Arme in die Luft zu werfen, zu jauchzen. Sie tanzen, als schaute ihnen niemand zu; sie tanzen, ohne nachzudenken. Etwas, das sich Erwachsene oftmals wünschen. Für Kinder dagegen ist Tanz etwas so Natürliches wie Nahrungsaufnahme. Es gehört zur Bewegung dazu – und Kinder haben einen wirklich großen Bewegungsdrang, der gestillt werden möchte. Doch Bewegung außerhalb kurzer Fußwege und kleiner Fahrradtouren ist in unserem modernen Alltag gar nicht vorgesehen. Daher fällt es Kindern oft schwer, ihre unbändige Bewegungsenergie loszuwerden. Umso wichtiger, dass sie tanzen dürfen. Halten wir es also mit Friedrich Nietzsche, der einmal sagte:
Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde!
Tanzpädagogin Susanne Bargfrede, die eine sozialpädiatrische Zusatzausbildung hat, erzählt uns, wie wir Kinder beim Tanzen anleiten können und was das Tanzen mit Körper und Geist macht.
Was bedeutet eigentlich Tanz für Kinder?
Tanz bedeutet zunächst, sich freudig zur Musik zu bewegen. Im Vordergrund stehen das Wohlbefinden und der Spaß der Kinder an der Bewegung. Ohne dass Kinder es wissen, passiert innerlich ganz viel mit ihnen.
Was denn zum Beispiel?
Sie können beispielsweise beseelt wie eine Schneeflocke zu Boden sinken und ganz bei sich im Moment sein – das, was Erwachsenen oftmals fehlt, können Kinder schließlich noch. Man darf bloß keine erwachsene Idee von Tanz in Perfektion und nach strenger Choreografie auf Kinder projizieren.
Ab wann spricht man denn überhaupt davon, dass Kinder tanzen?
Noch vor dem Laufenlernen, wenn Kinder gerade stehen können, fangen sie an, in den Knien zu wippen, sobald sie Musik hören. Das ist in allen Kulturen gleich.
Was macht man dann als Eltern? Musik an und los?
Im Prinzip schon. Man muss Kinder eigentlich fast nie dazu animieren zu tanzen, man kann sie nur unterstützen.
Also sollten wir Eltern vortanzen?
Gute Vorbilder sind wichtig. Es hilft natürlich, wenn die Eltern dann auch noch mittanzen. Im Normalfall tanzen die Kinder aber von ganz allein, es ist ihnen ein Grundbedürfnis. Und es bringt sie weiter. Es geht gar nicht nur um das Tanzen um des Tanzens willen.
Tanzen kann nämlich noch viel mehr.
Genau, es fördert die körperliche Entwicklung, fördert die Musikalität und die Kreativität, und es macht selbstbewusst. Eigenschaften also, die einem im ganzen Leben zugutekommen. Immer mehr Studien besagen, dass frühkindliche Bewegung schlau macht. Sie verbessert auf jeden Fall auch die kognitiven Fähigkeiten.
Können Sie das genauer erklären?
Nehmen wir mal das Beispiel Lesenlernen. Kinder lernen Buchstaben wie B und D leichter, wenn sie diese räumlich einordnen können, wenn sie wissen, wo das B gerade ist, wo es einen Buckel macht und sich biegt. Wenn Kinder im Tanz Raumerfahrungen gemacht haben, also sich mal über eine Diagonale bewegt, einen Kreis oder eine Acht getanzt haben, dann stützt sie dieses räumliche Verständnis der Buchstaben beim Lesenlernen. Außerdem unterstützt Bewegung die Hirnreife.
Ich habe mal gelesen, dass Tanzen genauso wichtig ist wie Mathe, weil beide sich ergänzen.
Es gibt ein gutes Sprichwort in dem Zusammenhang: Begreifen kommt von Greifen. Wenn ein Kind eine Sache erlebt hat, am besten mit dem ganzen Körper, fällt es dem Kind leichter, Dinge zu verstehen.
Durch Bewegung also entdecken Kinder ihre Umwelt. Können sich Kinder nicht ausreichend bewegen, kann das Auswirkungen haben auf ihre körperliche Entwicklung und ihre Gesundheit im Allgemeinen. Haben Kinder die Möglichkeit, sich genug zu bewegen, können sie ein positives Selbstwertgefühl und eine bessere Motorik entwickeln, auch wenn gewiss viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. Dabei erlernen sie viele Dinge, was unter dem Begriff Sensomotorik zusammengefasst wird. Der Entwicklungs-psychologe Jean Piaget prägte den Begriff der „sensomotorischen Intelligenz“, die durch Musik und Spiel gefördert wird.
Es gibt inzwischen viele Studien, die sich mit dem Phänomen Tanzen und Kognition beziehungsweise Lernen beschäftigen. Elizabeth Spelke von der Harvard University zum Beispiel fand heraus, dass jahrelanges Tanzen bei Schulkindern räumliches Denken fördert. Kinder, die gern tanzen, schnitten darüber hinaus besser in Geometrie-Tests ab. Durchs Tanzen werden tatsächlich beide Gehirnhälften beansprucht, sowohl die motorische Region als auch das Sprachzentrum. Die Behauptung, Tanzen mache schlau, ist also keine Übertreibung, im Gegenteil.
Tanzen drückt außerdem Gefühle aus und fördert die Vorstellungskraft von Kindern, trägt also zu ihrer psychischen Persönlichkeitsentwicklung bei. Das gemeinsame Tanzen stärkt soziale Kompetenz und das Selbstwertgefühl. Der Dirigent Sir Simon Rattle wagte 2003 ein Experiment, „Rhythm Is It“: 250 Hauptschüler probten ein Ballett, das von den Berliner Philharmonikern begleitet wurde. Kinder, die vorher noch nie klassische Musik gehört, geschweige denn zu dieser getanzt hatten, entwickelten plötzlich einen riesigen Ehrgeiz und waren äußerst diszipliniert. Einige schlugen im Anschluss an dieses Projekt einen völlig anderen Lebensweg ein als ihre Eltern. Tanzen, dieses Körper-Ausschütteln, das Entlüften des Geistes, das in so vielen Kulturen schon von klein auf zum Alltag dazugehört, sollte also bei uns noch viel mehr gefördert werden – nicht nur in einer professionellen Tanzgruppe, sondern immer und überall. Die Lebensfreude, die Bewegung den Kindern schenkt, lässt sich auch wunderbar im Spielfilm „Billy Elliot – I Will Dance“ sehen: Der kleine Billy, der eigentlich zum Boxtraining gehen soll, schleicht sich heimlich zum Ballettunterricht. Erst als seine Eltern verstehen, wie glücklich Billy der klassische Tanz macht, fangen sie langsam an, sein für Jungen immer noch unübliches Hobby zu akzeptieren.
Ab wann tanzen Kinder denn bewusster?
Bei unter Dreijährigen ist die Konzentrationsspanne sehr kurz, und selbst dann tanzen die Kinder gern und sind neugierig, wollen jedoch nichts üben.
Aber Sie bieten doch richtiges Kindertanzen ab drei Jahren an.
Wir verpacken den Tanz und die Techniken, die dahinterstehen, um Rhythmus zu lernen, Koordination und Haltung, in eine Geschichte. Kinder wollen ein Abenteuer, also geben wir ihnen eines. Zum Beispiel können sie mit dem Zauberflugzeug reisen, dann stellen sie sich in einer Reihe in den Raum und fangen an zu laufen, schnell oder langsam, trampelig oder trippelig. Das Flugzeug macht Hüpfer, wenn es hoch hinaus will oder in ein Loch plumpst, es kann auch mal eine Bruchlandung auf dem Boden machen.
Choreografien kommen also erst später?
Ja, es gibt ganz wenige festgelegte Schrittformen, damit die Kinder sich frei zur Musik bewegen und kreativ werden. Ab dem Vorschulalter können Kinder dann so langsam von der Gedächtnisleistung her kleine Abläufe behalten, also sich zwei bis drei Minuten Choreografie merken. Vorher fällt es ihnen einfach zu schwer, sich überwiegend langsam und ruhig zu bewegen, wie es häufig beim Ballett der Fall ist.
Es gibt ja immer noch dieses Klischee, dass Tanzen eher was für Mädchen sei.
Das stimmt natürlich so nicht, denn eigentlich tanzen alle Kinder gern und bewegen sich zur Musik, egal ob Mädchen oder Jungen. Tanz heißt ja nicht, ein rosa Tutu anzuziehen. Kinder können zum Beispiel auch mal der brüllende Löwe sein beim Tanzen, ein zartes Kätzchen oder ein frecher Fuchs, da fragt keiner nach dem Geschlecht.
Löwen und Füchse, das klingt nach viel Energie.
Sie können und sollen beim Tanzen das ganze Spektrum ihrer Emotionen ausleben, und man kann das im Tanz auch herleiten. Prinzessinnen können genauso Wutanfälle haben wie Prinzen. Uns ist wichtig, dass man nicht in Geschlechterklischees denkt. Und wenn ein Junge im Tutu tanzen möchte, macht er das einfach.
Und ab wann hat das nicht von allen Eltern geliebte Ballett Sinn?
Unter sechs Jahren fällt es Kindern meist sehr schwer, langsame, ruhige Bewegungen wie im Ballett zu machen. Viele denken ja, Kindertanzen sei synonym mit Ballett. Aber bis zum Schulalter arbeiten wir mit verschiedensten Techniken, in denen es um Rhythmus geht. Wir tanzen Folkloretänze, wir improvisieren, wir probieren auch ein paar Ballettübungen aus. Mit sieben oder acht Jahren können Kinder je nach ihren Neigungen und Interessen Tanzkurse besuchen, dann wollen sie nämlich auch was lernen und „echte“ Schrittfolgen tanzen. Manche fühlen sich im HipHop wohler, andere beim Modern Dance. Und wer gern Ballett tanzen möchte, der tanzt dann eben Ballett.
Susanne Bargfrede ist staatlich anerkannte Tanzpädagogin und arbeitet an der Lola Rogge Schule in Hamburg. Sie bildet dort andere Tanzpädagogen aus und unterrichtet Kindertanz seit 35 Jahren. Bargfrede bietet Weiterbildungen für Tanzpädagogen und Tanzprojekte in öffentlichen Schulen an.