Karre, Laufrad oder selber laufen? - Kita kinderzimmer Hamburg

Karre, Laufrad oder selber laufen?

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Ein Interview mit Kinderphysiotherapeutin Clarita Laatzen von Christian Heinrich | Foto: Bernd Westphal

Kinder lieben Fortbewegungsmittel! Welches ist für die körperliche Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren besonders förderlich?
Förderlich sind Bewegungsmittel, die zur motorischen Aufrichtungsentwicklung des Kindes beitragen. Da sind besonders zu nennen das Dreirad und der Roller, der jetzt wiederentdeckt wird. Eltern setzen derzeit ja vor allem auf Laufräder. Die bringen aber auch einige Probleme mit sich. Oder besser gesagt: Sie können Probleme verstärken, die zum Teil schon in der Säuglingsphase ihren Anfang nehmen.

Welche Probleme meinen Sie?
In Deutschland hört man von Kinderärzten häufig, dass Kinder im ersten Lebensjahr nicht auf dem Bauch schlafen sollten, man macht sich vor allem Sorgen, dass die Bauchlage beim Schlafen ein Risikofaktor ist für den plötzlichen Kindstod. Entsprechend sollten Eltern darauf achten, dass ihr Kleines wenigstens in den Wachphasen auf dem Bauch liegt. In der Rückenlage kann die Streckung des Beckens sowie die Stützfunktion der Arme nicht geübt werden. Auch im MaxiCosi im Auto oder in der Schale im Kinderwagen wird die Beugehaltung gefördert. Der Mensch benötigt aber die Streckung zur Aufrichtung, und das muss geübt werden.

Welche Folgen kann das haben?
Es kann zu Haltungsfehlern kommen, zum Beispiel in jungem Alter schon zu einem Rundrücken. Auch mangelhaft aufgerichtete Füße wie der Plattfuß werden häufiger. Und in letzter Zeit sehen Ärzte und ich immer häufiger Kinder mit Achillessehnenproblematiken, das gab es vor dreißig Jahren gar nicht.

Ist an alldem das Laufrad schuld?
Nein, natürlich nicht, aber es hat einen kleinen Anteil daran. Denn auf dem Laufrad sitzt das Kind, der Lenker ist vorn, also wieder leicht nach vorn gebeugt. Und mit den Füßen muss man sich nicht richtig abstoßen, sondern nur paddeln. Das heißt: Auch hier wird die abdrückende Muskulatur nicht gefordert.

Würden Sie wegen dieser Entwicklung von Laufrädern abraten?
Laufräder sind sehr in Mode gekommen und nicht mehr wegzudenken. Ich kläre aber die Eltern über die Vor- und Nachteile auf. Entscheiden müssen die Eltern dann selbst. Es geht nicht nur um die mangelnde Beanspruchung der besagten streckenden und abdrückenden Muskulatur. Es geht auch noch um ein ganz anderes Problem: die Zeit. Die fehlt in vielen Familien heute.

Was genau hat das mit Laufrädern zu tun?
Laufräder sind schnell. Und das passt den Eltern natürlich gut. Sie wollen vorwärtskommen, wenn sie das Kind in der Kita abgeben, weil der nächste Termin wartet. Deshalb werden oft auch für dreijährige Kinder noch Kinderkarren benutzt. Aber das ist problematisch, denn für die motorische Entwicklung der Kinder ist das Gehenlernen enorm wichtig. Viele unterschätzen das oder wissen es gar nicht.

Mit drei Jahren können Kinder aber noch nicht weit am Stück gehen. Bei längeren Strecken ist da ein Kinderwagen unerlässlich.
Was ist eine längere Strecke? Häufig wird die Kinderkarre ja schon rausgeholt, um das Kind zum Spielplatz einen Straßenblock weiter zu bringen. Wie kann da das Kind für längere Strecken das Gehen und die Ausdauer üben? Bei langen Strecken kann man das Kind auch immer mal wieder ermutigen, auszusteigen und zu laufen. Zum Beispiel indem man die gemütliche Kinderkarre durch einen Bollerwagen ersetzt und den Kindern zeigt, was sie alles am Wegesrand entdecken und untersuchen können, wenn sie laufen. Das lässt Wege kürzer erscheinen. Aber all das kostet wieder Zeit – und daran mangelt es heutzutage oft. Doch ist es lohnenswert, sich diese Zeit zu nehmen: Man investiert in und für die Zukunft des Kindes. Nicht nur die körperliche Entwicklung ist besser, wenn das Kind viel läuft. Auch die psychologischen und besonders die kognitiven Auswirkungen sind nicht zu unterschätzen.

Erklären Sie das genauer.
Das Kind lernt etwas sehr Wichtiges: Ausdauer und Geduld. Ein Kind lernt in seiner motorischen Entwicklung erst das Laufen, dann das Gehen. Gehen ist die schwierigere Bewegungsart, weil sie langsamer ist und mehr Haltungskontrolle erfordert. Wer geht, der erfährt dabei auch, dass es Zeit und Anstrengung braucht, um etwas zu schaffen. Und dass man, um ein Ziel zu erreichen, durchhalten muss. Das gehört alles zur unbewussten Lektion des Gehens dazu, und das sind wichtige Voraussetzungen für das Leben und ganz besonders für das schulische Lernen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Wer nicht gelernt hat, längere Strecken zu gehen, der kann sich später schlechter konzentrieren.