Wie heißt es im Lied „Remmidemmi“ der Hamburger Band Deichkind noch so treffend: „Wir wollen nur was erleben!“ Genau so geht es unseren Kindern. Erlebnishungrig, mitteilungsbedürftig und auf Entdeckermodus geschaltet, gehört für sie eines zum Alltag dazu: jede Menge Krach zu machen. Ob mit Bauklötzen, Trommeln und Trompeten, ob beim Lachen oder Schreien mit der eigenen Stimme … laut zu sein macht Spaß, und Kinder- geräusche sind Ausdruck von Lebenslust und Freude. Das darf und das muss.Doch es gibt Grenzen. Und damit sind in diesem Fall ausnahmsweise nicht die elterlichen oder gar nachbarschaftlichen Nerven gemeint. Eine Studie der Krankenkasse DAK gibt Grund zum Aufhorchen: Kinder und Jugendliche in Deutschland hören immer schlechter. Bereits 12,8 Prozent der Kinder im Alter von acht bis vierzehn Jahren haben auf mindestens einem Ohr einen Hörverlust von mehr als zwanzig Dezibel. Grund genug, um uns mit dem Thema zu befassen: Wo hört ein bisschen Krach auf, wo fängt schädlicher Lärm an?Zunächst einmal müssen wir uns klarmachen, wie wichtig ein intaktes Gehör fürs Kind ist. Die gesamte Sprachentwicklung hängt davon ab. Ein Kind knüpft schneller Kontakte, lernt besser Lesen und Schreiben, fühlt sich anerkannter. Sich gegenseitig zuzuhören wird von Kindern als eine Art Zuwendung empfunden.
Der alltägliche Lärm.
Zuhören, das beginnt schon im Mutterleib: Babys nehmen Stimmen und Töne wahr, allein übers Hören derelterlichen Stimmen baut sich eine emotionale Bindung auf (lesen Sie mehr dazu ab Seite 8). Beim Neugebore- nen ist das Gehör bereits voll funktionsfähig, allerdings unterscheidet sich das Hörvermögen noch stark von dem eines Erwachsenen: In den ersten drei Lebensjahren, der sogenannten sensiblen Phase, lernt das Gehirn intensiv, die gehörten Informationen zu verfeinern und zu verschärfen. Denn zunächst haben Kleinkinder Schwierigkeiten, Geräusche zu unterscheiden, und können schwer ausmachen, woher ein Geräusch überhaupt kommt. Erst mit etwa fünf, sechs Jahren ist die Hörfähigkeit voll ausgebildet.
Neben dem Kita-Mixtape an Lachen, Schreien, Weinen und Tobegeräuschen prasselt nun aber ein alltäglicher Klangteppich aus Verkehrsgeräuschen, Turnhallengeschrei, Baulärm, TV- und Musikgedudel und vielem mehr auf die zarten Kinderohren ein. Mal leise, seit Jahren aber tendenziell immer lauter. Zwar sind auch Kinderohren in der Lage, selektiv zu hören (einzelne Stimmen und Hintergrundgeräusche werden unterdrückt, um sich auf die wichtigen oder interessanten zu konzentrieren). Dennoch: Etwa 15.000 Haarzellen in den Ohren fangen die Schallwellen jedes einzelnen Tons ab, verarbeiten sie und schicken sie als Signal ans Gehirn. Daher sind die Ohren rund um die Uhr im Einsatz. Sie können nicht einfach geschlossen werden wie unsere Augen – sie hören alles, ob sie wollen oder nicht.
Ruhe, bitte!
Das kann anstrengend sein. Manche Erwachsene entspannen ihre Ohren mittlerweile mit einer bestimmten wohltuenden Mischung aus Geräuschen, die als „White Noise“ bezeichnet wird. White Noise ist ein Rauschen aus vielen verschiedenen Frequenzen, die alle die gleiche Lautstärke haben. Es lässt sich etwa bei YouTube abspielen oder als Audiodatei herunterladen und klingt wie ein kontinuierliches Meeresrauschen. Wenn man es eine Viertelstunde abends vor dem Einschlafen oder in der Mittagspause hört, wirkt das tatsächlich beruhigend. Warum das so ist, darüber gibt es verschiedene Theorien. Manche Forscher meinen, dass die Ohren umso unempfindlicher werden, je lauter die Umgebung ist. Und die ist durch White Noise ja lauter; man bekämpft im Grunde Geräusche mit anderen Geräuschen. Ideal vor allem für Kinder ist wohl etwas anderes: Ruhe.
Denn Dauerbeschallung kann Körper und Psyche eines Kindes beeinträchtigen. Die Bandbreite reicht von Ver- zögerungen beim Sprechen und Lesenlernen über geringe Lernmotivation bis hin zu erhöhtem Blutdruck und Stresspegel oder Schlafstörungen. Die Lärmforschungsstudie NORAH von 2014, an der über 1.200 Kinder teil- nahmen, zeigte, dass diejenigen, die in Flughafennähe lebten, schlechtere Leseleistungen als die anderen Kinder besaßen.
Auch Spielzeug kann zu laut sein.
Schwierig wird es, wenn ein bestimmter Pegel überschritten wird. Sie können sich das leicht bildlich vorstellen: Geräusche erzeugen Schall. Ein leises Geräusch streicht über die Haarzellen im Ohr wie ein Windhauch über ein Rapsfeld. Ein lautes Geräusch gleicht eher einem Orkan. Die Haarzellen werden wie Blüten im Rapsfeld abgeknickt oder gar wortwörtlich ausgerissen. Das Problem: Die Zellen wachsen im Ohr nicht nach, damit ist das dauerhafte Hörvermögen gefährdet. Für bleibende Schäden reicht bereits ein einzelner Ton aus. Eine normale Gesprächslautstärke liegt bei 60 Dezibel, ab einer Lautstärke von 85 Dezibel (beispielsweise Diskothek, Autobahn) wird es bereits kritisch, und bei Messwerten ab 135 Dezibel (Rockkonzert, Flughafen) muss man mit ernsten Folgen rechnen, es kann zu einem anhaltenden Taubheitsgefühl, zu Piepen, Rauschen oder Pfeifen im Ohr kommen. Wenn die feinen Haarzellen im Innenohr nicht genügend Ruhephasen erhalten und überreizt werden, droht eine verminderte Hörfähigkeit oder gar Schwerhörigkeit.
Nun steht man mit seinem Kind eher weniger stundenlang direkt neben einer Autobahn oder nimmt das Kind am Wochenende mit zum Clubbesuch. Aber, was sich wenige klarmachen, auch Spielzeug kann zu laut sein. Wussten Sie, dass eine Babyrassel, nah ans Ohr gehalten, mit 93 Dezibel lauter sein kann als ein Zug, der vorbeirauscht? In einer Untersuchung der Fachhochschule Aalen wurden verschiedene Spielzeuge nach Lautstärke analysiert. Besonders schädigend sind Geräusche ganz nah am Ohr: die Quietsche-Ente, Trillerpfeifen, ein platzender Luftballon – sie alle sind so laut wie ein vorbeifliegender Düsenjet. Spielzeug-Plastikwaffen können gar 150 Dezibel erreichen, schon ein einziger Schuss kann zu dauerhafter Hörminderung führen.
Spielzeuge lassen sich prima messen, Dauerbeschallung lässt sich meist auch eindämmen – die individuelle akustische Belastbarkeit eines Kindes wiederum ist eine Charakterfrage. Deswegen ist es gut, das Kind auch in der Hinsicht zu beobachten, kennenzulernen und ernst zu nehmen. Wie sensibel ist mein Kind? Wie gut kann das Kind mit Geräuschen umgehen? Musik zum Beispiel, selbst bei moderater Lautstärke, kann für das eine Kind ein Genuss sein, für das andere eine Qual. Die einen schreien gern, andere flüstern und beobachten lieber. Natürlich können wir nicht alle Geräusche abschalten, aber Rücksicht nehmen und gegebenenfalls eingreifen: einfach schnell die Hände auf die Ohren des Kindes legen beim lauten Pfeifen des Schaffners, bevor der Zug abfährt. Der Schall wird gedämpft und kommt nicht mehr mit voller Wucht an. Beim Festival bleiben die Kinder besser bei Oma und Opa, und beim Presslufthammer wechseln Sie die Straßenseite. Generell gilt: Gönnen Sie Ihrem Kind (und sich selbst) Stillepausen. Dabei erholt sich nicht nur das Gehör, sondern auch die Seele. Danach dürfen dann gern wieder Krawall und Remmidemmi gemacht werden – wenn alle Lust dazu haben …
Wer die Lärmempfindlichste in der Familie unserer Autorin ist, wurde neulich beim Familienessen klar: Da saßen beim Italiener am Riesentisch nebenan etliche Senioren, die sich sehr angeregt unterhielten. Die zweijährige Mara hielt sich entrüstet die Ohren zu und schrie: „OMA, POPA, ZU LAAAAUT.“ Als es ruhiger wurde, schmeckten die Nudeln ohne alles gleich viel besser …
0 bis 20 dB
hören auch Kinder kaum. In diesem Bereich liegen etwa raschelnde Blätter, Schneefall oder Flüstern.
20 bis 40 dB
sind gut zu hören – so das Ticken eines Weckers oder andere Hintergrundgeräusche im Haus. Kinder können von diesen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen werden.
40 bis 60 dB
ist normale Gesprächslautstärke, kann allerdings bereits die Konzentration beeinträchtigen. Dazu zählen ein leises Radio oder das Brummen des Kühlschranks.
60 bis 75 dB
werden langsam laut. Ein Streitgespräch liegt schon in diesem Bereich – auch vorbeifahrende Autos und die Waschmaschine im Schleudergang.
80 bis 100 dB
erreichen vorbeifahrende Lkw oder das Knallen von Türen. Ab 85 dB wird es kritisch: Auf Dauer droht hier ein Gehörschaden.
Bei 120 dB
liegt etwa die Schmerzgrenze des menschlichen Ohrs. Wir halten uns reflexartig die Ohren zu. Diesen Krach machen Motorsägen und manches Livekonzert.
Ab 150 dB
werden Geräusche zur Qual. Das Gehör nimmt unwiderruflich Schaden. Diese Lautstärke hat beispielsweise ein Schmiedehammer.
Die Dezibelwerte (dB) können sehr schwanken. Sie hängen von vielen Faktoren ab – zum Beispiel davon, wie weit jemand von der Lärmquelle entfernt ist, welche Windrichtung vorherrscht und welche Geräusche im Hintergrund ertönen.
Psssssssssssst, jetzt mal ganz ruhig, bitte.
Tipps für stillere Momente.
Einen Waldspaziergang machen.
Naturgeräusche wie das Plätschern eines Bachs, Blätterrauschen oder Vogelgezwitscher wirken positiv auf Körper und Seele. Der Wald-und-WiesenSound kann Stress abbauen.
Das Kinderzimmer beruhigen.
Legen Sie als Spielunterlage einen Teppich aus.
Nach der Kita ein Ruheritual einführen.
Etwas malen, puzzeln, sich aufs Ohr legen – einmal zu Hause angekommen, können Sie zunächst eine Pause machen. So laden Sie und Ihr Kind nach dem Kitatag ihre Akkus wieder auf.
Regelmäßig vorlesen.
Bücher mögen fast alle Kinder, und beim Zuhören wird es auf einmal schön still im Zimmer.
Licht dimmen.
Softes Licht dämpft erstaunlicherweise die Lautstärke. Kerzenlicht beim Abendbrot beispielsweise unterstützt eine ruhige Unterhaltung.
Musikpausen einlegen.
Lassen Sie die LieblingsMusikCD Ihres Kindes nicht in Dauerschleife laufen. Für die kleinen Ohren ist es besser, sie einmal bewusst zu hören und dann wieder zu pausieren.
Spielzeuge prüfen.
Kinder halten sich laute Spielzeuge gern extranah ans Ohr – das ist gefährlich. Testen Sie selbst die Kazoo, die Flöte, die Knackfrösche, die Trillerpfeife, die Rassel oder das elektronische Musikhündchen: Was für Elternohren zu laut ist, das ist ganz sicher auch für Kinder nicht geeignet.
Üben, leise Geräusche zu hören.
Wie klingt eigentlich der Wind in den Bäumen?Reis in der Dose? Das Klackern der Steine? Schnalzen mit der Zunge? Wer ein bisschen Geräuscheraten macht, kann das Gehör des Kindes sensibilisieren.
Kind beobachten.
Sollten Sie das Gefühl haben, Ihr Kind hört schlecht(er), gehen Sie zum Kinderarzt!
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Wenn Kinder nicht hören können, leben sie in ihrer ganz eigenen Welt. Ein Glück, dass Hörstörungen heute immer besser behandelt werden, weil man sie früher denn je erkennt. Über eine große, leise Erfolgsgeschichte der modernen Medizin, die auch kulturelle Auswirkungen hat.
Wie klingt was?
Kinder lieben es, genau hinzuhören. Hat da ein Ästchen geknackt, eine Taube gegurrt, ein Wasserhahn getropft? Ein Geräuschemacher erzählt.
Wie singt die Welt?
Musik ist wie ein Reiseticket: Ein paar Trommeln und Trompeten reichen uns manchmal schon aus, um von jetzt auf gleich in eine andere Welt gebeamt zu werden – oder besser gesagt: in ein anderes Land. Auch im kinderzimmer gehen wir regelmäßig auf die ganz große Reise, um singend die Welt und die Menschen und Tiere, die woanders leben, kennenzulernen.